Rechtsanwalt Dr. Burkhard Preusche Frankfurt a.M., den 20.2.2017
Einleitung:
In verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen des Jahres 2016 wird zur Freigabe verkaufsoffener Sonntage nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 – 8 CN 2/14 – BVerwGE 153,183 darauf abgestellt, wieviel Besucher voraussichtlich zu der Veranstaltung kommen, die den Anlass für die Freigabe bildet, und wieviel Besucher voraussichtlich wegen der Ladenöffnungen kommen.
Der folgende Beitrag befasst sich mit dieser Rechtsprechung und ihren Anomalien. Der Verfasser vertritt die Auffassung, dass die mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 eingeleitete Rechtsprechung zur Prognose von Besuchermengen nicht richtig ist.
- Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu dem Ladenschlussgesetz
1.1.) Das vom Bund im Jahre 1956 erlassene Gesetz über den Ladenschluss (BGBl. I S.875) bestimmt in § 3 Abs.1 Nr.1 LadSchlG zu den allgemeinen Ladenschlusszeiten, dass Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein müssen. § 14 des Ladenschlussgesetzes (letzte Fassung vom 2.6.2003, BGBl. I S.744) bestimmt, dass abweichend von der Vorschrift des § 3 Abs.1 Nr.1 Verkaufsstellen aus Anlass von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen an jährlich höchstens vier Sonn- und Feiertagen geöffnet sein dürfen und dass diese Tage von den Landesregierungen oder den von ihnen bestimmten Stellen durch Rechtsverordnung freigegeben werden.
1.2.a) Mit Urteil vom 06.12.2013 erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof auf Antrag einer Gewerkschaft hin die Rechtsverordnung einer Gemeinde zur Freigabe verkaufsoffener Sonn- und Feiertage für unwirksam, da sie gegen § 14 LadSchlG verstoße[1].
In den Gründen des Urteils heißt es, soweit die Verordnung eine Sonntagsöffnung in Eching-Ost zugelassen habe, habe sie mit den Erfordernissen des materiellen Rechts nicht in Einklang gestanden. Denn die Gemeinde habe bei deren Erlass keine rechtskonforme Prognose darüber angestellt, ob der in jenem Ortsteil erstmals stattfindende Frühjahrsmarkt so attraktiv sein werde, dass er, nicht aber das in Eching-Ost gestattete Offenhalten von Verkaufsstellen, den hauptsächlichen Grund für den Aufenthalt von Besuchern dort bieten würde[2]).
Das Tatbestandsmerkmal „anlässlich eines Marktes“ könne auch dann erfüllt sein, wenn es sich um einen erstmals stattfindenden Markt handle. Notwendig sei in aber eine im Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung nach § 14 LadSchlG getroffene Prognose dahingehend, dass die Marktveranstaltung ein hohe Besucherzahl erwarten lasse, die ihrerseits die Öffnung der örtlichen Verkaufsstellen rechtfertigen könne[3].
1.2.b) Dass die Sonntagsöffnung von Läden anlässlich eines Marktes einen beträchtlichen Besucherstrom des Marktes voraussetzt, das entspricht dem von Anfang an herrschenden Verständnis des § 14 LadSchlG[4].
Das Bundesverwaltungsgericht führte in seinem Beschluss vom 6.3.2003 -6 BN 9.02- zu § 14 LadSchlG aus, es müsse sich um solche Veranstaltungen handeln, die einen beträchtlichen Besucherstrom anziehen und aus diesem Grund Anlass bieten, abweichend von den allgemeinen Ladenschlusszeiten die Offenhaltung der Verkaufsstellen freizugeben. Der „beträchtliche Besucherstrom“ sei ein solcher, der es erwarten lasse, dass die Angebote der geöffneten Verkaufsstellen in einem auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten relevanten Maße in Anspruch genommen werden[5].
In der Bekanntmachung des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 10. November 2004 zu Rechtsverordnungen nach § 14 LadSchlG heißt es, der Zweck des § 14 LadSchlG bestehe darin, den Bedürfnissen eines beträchtlichen Besucherstroms Rechnung zu tragen. Im Übrigen solle den Verkaufsstellen die Möglichkeit gegeben werden, den Zustrom der Besucher geschäftlich zu nutzen[6].
Auch das OVG Lüneburg führte in seinem Urteil vom 21.4.2005 -7 KN 273/04- aus, der Zweck des § 14 LadSchlG bestehe darin, den Bedürfnissen eines aus anderem anerkannten Anlass resultierenden beträchtlichen Besucherstroms Rechnung zu tragen und dem Einzelhandel durch die Einbeziehung der Verkaufsstellen in die Veranstaltung die Möglichkeit zu geben, den Besucherandrang geschäftlich zu nutzen. Darüber hinaus solle dem Versorgungsbedürfnis der auswärtigen Besucher des Veranstaltungsortes Rechnung getragen werden[7].
Nicht für richtig halte ich aber das Gewicht, das in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 06.12.2013 dem Fehlen einer Prognose für die Wirksamkeit der Freigabe-Verordnung beigemessen wird.
Grundsätzlich kommt es für die Gültigkeit einer Rechtsnorm darauf an, ob sie gegen höherrangiges Recht verstößt Das Ladenschlussgesetz schreibt für den Erlass von Rechtsverordnungen, mit denen verkaufsoffene Sonntage freigegeben werden, keine Verfahren und insbesondere keine Prognosen vor. Das Fehlen einer Prognose dürfte daher an sich solche Rechtsverordnungen nicht unwirksam machen[8].
Allerdings schreibt die bereits genannte Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 10.11.204 vor, der Verordnungsgeber habe in jedem Einzelfall im Wege einer sachgerechten Prognose zu prüfen, ob die den Anlass bildende Veranstaltung einen beträchtlichen Besucherstrom anziehen werde[9].
Im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31.3.2011 heißt es zu der Beanstandung einer Freigabe-Verordnung, es obliege dem kommunalen Verordnungsgeber, im Zeitpunkt des Beschlusses über die zu erlassende Rechtsverordnung zu prüfen und (positiv) festzustellen, dass diese dem geltenden Recht entspricht, was im Falle einer in der Zukunft liegenden Sonntagsöffnung anlässlich eines Jahrmarkts die fundierte und realistische Prognose erfordere, dass an dem betroffenen Sonntag der Markt die vom Gesetz verlangten und von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Kriterien für eine Sonntagsöffnung erfülle[10].
Den Gemeinden ist indessen die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen nach § 14 Abs.1 LadSchlG ohne Einschränkung und ohne Verfahrensregelungen übertragen[11].
1.3.a) Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Urteil vom 11.11.2015 -8 CN 2.14- die Revision der Gemeinde gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 06.12.2013 zurück[12].
In den Gründen des Urteils heißt es, soweit die zur Prüfung gestellte Rechtsverordnung die sonntägliche Ladenöffnung aus Anlass des „Echinger Frühjahrsmarktes“ gestatte, genüge sie nicht den materiell-rechtlichen Anforderungen des § 14 Abs. 1 Satz 1 LadSchlG[13] . Der in Art.140 GG i.V.m. Art.139 WRV enthaltene Schutzauftrag an den Gesetzgeber gewährleiste ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes. Er statuiere für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis; die typisch werktägliche Geschäftigkeit habe an Sonn-und Feiertagen zu ruhen[14].
Das Bundesverwaltungsgericht habe bisher die Vorschrift des § 14 Abs.1 Satz 1 LadSchlG einschränkend dahin ausgelegt, dass nur Veranstaltungen, die selbst einen beträchtlichen Besucherstrom anziehen, Anlass für eine Ladenöffnung geben könnten; der Besucherstrom dürfe nicht umgekehrt erst durch die Offenhaltung der Verkaufsstellen ausgelöst werden. Diese Rechtsprechung trage dem verfassungsrechtlich gebotenen Regel-Ausnahme-Gebot noch nicht genügend Rechnung, weil sie nur verlange, dass der Markt für sich genommen einen starken Besucherstrom auslöst, aber nicht ausschließe, dass daneben die Ladenöffnung den öffentlichen Charakter des Tages maßgeblich präge[15]).
Die Vorschrift des § 14 LadSchlG erlaube jedoch eine weitergehende verfassungskonforme Einschränkung ihres Anwendungsbereichs. Die Tatbestandsvoraussetzung „aus Anlass von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen“ sei mit Blick auf das Erfordernis einer allenfalls gering prägenden Wirkung der Ladenöffnung so zu verstehen, dass die öffentliche Wirkung der traditionell auch an Sonn- und Feiertagen stattfindenden Märkte, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen gegenüber der typisch werktäglichen Geschäftigkeit der Ladenöffnung im Vordergrund stehen müsse. Die Ladenöffnung entfalte dann eine gering prägende Wirkung, wenn sie nach den gesamten Umständen als bloßer Annex zur anlassgebenden Veranstaltung erscheine[16]).
Das könne in der Regel nur dann angenommen werden, wenn die Ladenöffnung auf das Umfeld des Marktes begrenzt werde, weil nur insoweit ein Bezug zum Marktgeschehen erkennbar bleibe. Bei auf bestimmte Handelszweige beschränkten Märkten könne der erforderliche Bezug auch thematisch dadurch hergestellt werden, dass die Ladenöffnung nur für dieselben Handelszweige zugelassen werde. Darüber hinaus bleibe die werktägliche Prägung der Ladenöffnung nur dann im Hintergrund, wenn nach der anzustellenden Prognose der Besucherstrom, den der Markt für sich genommen auslöse, die Zahl der Besucher überstiege, die allein wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen kämen[17].
Der Verwaltungsgerichtshof habe beanstandet, dass die Gemeinde bei Erlass der Rechtsverordnung keine rechtskonforme Prognose darüber angestellt habe, ob der in Eching-Ost erstmals veranstaltete Frühjahrsmarkt so attraktiv sein werde, dass er und nicht die am selben Tag gestattete Ladenöffnung den hauptsächlichen Grund für den Aufenthalt von Besuchern dort biete. Dagegen sei revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Die nach § 14 Abs.1 Satz 1 LadSchlG gestattete sonntägliche Ladenöffnung aus Anlass eines Marktes setze voraus, dass der Markt selbst und nicht erst die Ladenöffnung einen beträchtlichen Besucherstrom auslöst, der die Zahl der Besucher bei alleiniger Öffnung der Verkaufsstellen übersteigt .Die gemeindliche Prognose unterliege zwar nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle; insbesondere dürfe das Gericht keine eigene Prognose vornehmen. Es habe jedoch zu prüfen, ob die bei Erlass der Rechtsverordnung über die Freigabe der Ladenöffnung vorgenommene Prognose schlüssig und vertretbar ist[18].
Diesen Anforderungen werde die von der Gemeinde angestellte Prognose hinsichtlich der Anziehungskraft des erstmals in Eching-Ost veranstalteten „Echinger Frühjahrsmarktes“ nicht gerecht[19]).
1.3.b) Wenn das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil ausführt, wie bei verfassungskonformer Auslegung die Tatbestandsvoraussetzung „aus Anlass von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen“ zu verstehen sei[20] , so nimmt das Bundesverwaltungsgericht damit die ihm im Rahmen der Gewaltenteilung zustehenden Aufgaben und Kompetenzen wahr.
In dieser Hinsicht begegnet es keinen Bedenken, wenn in einem der dem Urteil voran gestellten Leitsätzen gesagt wird, die Zulässigkeit der Sonntagsöffnung setze regelmäßig voraus, dass die Ladenöffnung in engem räumlichen Bezug zum konkreten Marktgeschehen stehe und prognostiziert werden könne, dass der Markt für sich genommen einen beträchtlichen Besucherstrom anziehe, der die bei einer alleinigen Öffnung der Verkaufsstellen zu erwartende Zahl der Ladenbesucher übersteige.
Die Möglichkeit, dass etwas prognostiziert werden kann, ist kein konkretes Geschehen und ist dem Vorliegen einer Prognose nicht gleich zu setzen.
Wenn das Bundesverwaltungsgericht aber das Vorliegen einer von der Gemeinde konkret erstellten sachgerechten Prognose generell zur Voraussetzung für die Zulässigkeit der Freigabe-Verordnung zur Sonntagsöffnung macht, so fügt es den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen oder Anforderungen für den Erlass einer Freigabe-Verordnung eine neue Voraussetzung oder Anforderung hinzu. Eine solche Regelungstätigkeit dürfte für ein Gericht eher anomal sein[21].
Die vom Bundesverwaltungsgericht für erforderlich gehaltenen Prognosen begegnen auch Bedenken, was ihren Inhalt betrifft.
Das Bundesverwaltungsgericht macht geltend, dass die öffentliche Wirkung der Märkte, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen gegenüber der typisch werktäglichen Geschäftigkeit der Ladenöffnung im Vordergrund stehen müsse. Die werktägliche Prägung der Ladenöffnung bleibe nur dann im Hintergrund, wenn nach der anzustellenden Prognose der Besucherstrom, den der Markt für sich genommen auslöse, die Zahl der Besucher überstiege, die allein wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen kämen[22]).
Die “werktägliche Prägung“ der Ladenöffnung ist indessen umso geringer, je mehr Besucher im Zusammenhang mit dem Markt über das an Werktagen übliche Maß hinaus die geöffneten Läden besuchen. Die Menge der Marktbesucher bei der Zulassung von Ausnahmen der Menge der Ladenbesucher gegenüber zu stellen,, erscheint bereits vom Ansatz her nicht richtig zu sein. Die geschäftige Betriebsamkeit von Kundengesprächen, Käufen und Verkäufen, Betätigung von Umsatzinteressen und Erwerbsinteressen ist sowohl für Märkte und Messen als auch für Verkaufsstellen wesentlich und prägend.
Grund für die Zulassung von Ausnahmen von dem Sonntagsverbot der Ladenöffnungen war ja gerade nach der über ein halbes Jahrhundert hin überwiegend vertretenen Auffassung des § 14 LadSchlG, dass der Markt oder die Messe einen beträchtlichen Besucherstrom anzieht, der es erwarten lässt, dass die Angebote der geöffneten Verkaufsstellen in einem beträchtlichen Maße in Anspruch genommen werden[23]. Weshalb das Bundesverwaltungsgericht mit dem Urteil vom 11.11.2015 diese Linie verlassen hat, ist nicht recht einsichtig.
Die in dem Urteil in Bezug genommenen Urteile des Bundesverfassungsgericht vom 9.6.2004 -1 BvR 636/02- BVerfGE 111,10 und vom 1.12.2009 -1 BvR 2857,2858/07- BVerfGE 125,39 sprechen nicht für die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene neue Auffassung. Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse potentieller Käufer genügen nach diesen Urteilen grundsätzlich nicht, um Ausnahmen zu rechtfertigen, sondern es bedarf dazu des Anlasses eines Marktes oder einer ähnlichen Veranstaltung, die eine beträchtlichen Besucherstrom anzieht. Wenn das dazu führt, dass eine viel größere Besuchermenge die geöffneten Läden aufsucht als an Werktagen üblich und auf der Kundenseite der Markt dazu führt, dass ein über das alltägliche “shopping-Interesse“ hinaus gesteigertes Erwerbsinteresse entsteht, so bleiben die im Zusammenhang mit dem Markt oder einer ähnlichen Veranstaltung zugelassenen Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar und laufen diese Ausnahmen nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinaus[24]. Der für eine Ausnahme erforderliche Sachgrund wird nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.2009 nicht mit der Handlungsfreiheit von Ladenbesitzern und potentiellen Kunden abgewogen, sondern ergänzt diese als Gewicht bei der Abwägung mit dem Sonn- und Feiertagsschutz, ob eine Ausnahme gerechtfertigt sein könnte.
1.4.) Bedenken, ob die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 den allgemeinen juristischen Regeln entspricht, werden auch in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18.5.2016 -22 N 15.1526- deutlich. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte in seinem Urteil vom 18.5.2016 auf Antrag einer Dienstleistungsgewerkschaft über die Gültigkeit der von der Stadt München im Mai 2015 zum Stadtgründungsfest nach § 14 LadSchlG erlassenen Freigabe-Verordnung zu befinden. In dem Urteil wird ausgeführt, eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung des Abwägungsvorgangs des Normgebers setze bei untergesetzlichen Vorschriften eine besonders ausgestaltete Bindung des Normgebers an gesetzlich formulierte Abwägungsdirektiven voraus, wie sie etwa im Bauplanungsrecht bestünden. Fehlten solche gesetzliche Abwägungsdirektiven, könne die Rechtswidrigkeit einer Norm nicht mit Mängeln im Abwägungsvorgang begründet werden. Entscheidend sei alsdann allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspreche. Ob dies auch im vorliegenden Fall gelte, lasse der Verwaltungsgerichtshof offen. Offen bleiben könne daher auch, ob das im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 -8 CN 2.14- aufgestellte Erfordernis, wonach der Verordnungsgeber zusätzlich zur Beurteilung der Eigenattraktivität der anlassgebenden Veranstaltung im Sinn von § 14 Abs.1 Satz 1 LadSchlG eine Prognose über den zu erwartenden Zustrom ausschließlich kaufinteressierte Personen sowie allgemein über die Auswirkungen der Ladenöffnung auf den öffentlichen Charakter der betroffenen Sonntage anzustellen habe, als richterrechtliche entwickeltes Erfordernis angesehen werden müsse, das einer gesetzlichen Abwägungsdirektive gleichstehe[25].
- Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu den Ladenöffnungsgesetzen
2.1.) Im Zuge der im Jahre 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform wurde die Zuständigkeit für die Ladenschlusszeiten vom Bund auf die Länder übertragen. In den folgenden Jahren haben alle Bundesländer, Bayern ausgenommen, Ladenöffnungsgesetze erlassen, die an die Stelle des Ladenschlussgesetzes getreten sind. In Bayern gilt weiterhin das vom Bund erlassene Gesetz über den Ladenschluss.
Die Ladenöffnungsgesetze bestimmen, fast alle in ihrem § 3, zu den allgemeinen Ladenschlusszeiten, dass Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein müssen oder nicht geöffnet sein dürfen. Die an die Stelle des § 14 LadSchlG getretenen Bestimmungen zu Ausnahmen von dieser Regel entsprechen inhaltlich und strukturell mehr oder weniger der Regelung des § 14 LadSchlG. Sie enthalten keinen ausdrücklichen Bezug auf Besucher.
Die meisten der seit Anfang des Jahres 2016 veröffentlichten Entscheidungen von Verwaltungsgerichten zur Freigabe verkaufsoffener Sonntage beachten den vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 11.11.2015 -8 CN 2/14- zum Ladenschlussgesetz aufgestellten Satz, für die Freigabe verkaufsoffener Sonntage sei es regelmäßig erforderlich, dass nach einer von der Gemeinde als Verordnungsgeber anzustellenden Prognose der Besucherstrom zu dem Markt oder einer ähnlichen Veranstaltung die Zahl der Besucher übersteigt, die allein wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen kommen.
2.2.a) Das Thüringer Oberverwaltungsgericht entschied mit Beschluss vom 07.03.2016 -3 EN 123/16- über den Antrag einer Gewerkschaft, eine Verordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen in Erfurt zu den Veranstaltungen “Tanz in den Mai“, “Japanisches Gartenfest“ und “Kinderspielfest“ außer Vollzug zu setzen.
Das Thüringer Ladenöffnungsgesetz vom 24.11.2006 (GVBl. 2006,541) bestimmt in § 10 ThürLadÖffG, dass an jährlich höchstens vier Sonn- und Feiertagen Verkaufsstellen aus besonderem Anlass geöffnet sein dürfen und dass diese Öffnungstage durch die Landkreise und die kreisfreien Städte im übertragenen Wirkungskreis durch Rechtsverordnung freigegeben werden.
Das Oberverwaltungsgericht setzte die Freigaben der Ladenöffnungen außer Vollzug, weil die gesetzliche Voraussetzung eines „besonderen Anlasses“„ nicht erfüllt sei[26]. Mit Bezug auf einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.12.1989 -1 B 153/89- und dessen Urteil vom 11.11.2015 -8 CN 2/14- wird ausgeführt, nur Veranstaltungen, die selbst einen beträchtlichen Besucherstrom anziehen, könnten Anlass für eine Ladenöffnung geben; der Besucherstrom dürfe nicht umgekehrt erst durch die Offenhaltung der Verkaufsstellen ausgelöst werden. Zur Abschätzung der jeweiligen Besucherströme sei auf eine gemeindliche Prognose zurückzugreifen[27].
In dem Hauptsacheverfahren erklärte das Thüringer Oberverwaltungsgericht dann mit Urteil vom 22.09.2016 -3 N 182/16-, die Rechtsverordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen in Erfurt erfülle nicht die Voraussetzungen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des § 10 Abs.1 ThürLadÖffG[28].
Der Verordnungsgeber habe sich im Vorfeld des Normerlasses zu vergewissern, wie sich die von ihm zugelassene Öffnung von Verkaufsstellen auf den Charakter der hiervon betroffenen Sonntage auswirken werde. Dies setze auch nach dem Thüringer Landesrecht jedenfalls voraus, dass der Verordnungsgeber über die weitere Frage, ob die Verkaufsöffnung überhaupt dem Anlass dienlich sei, hinaus zunächst auf Grundlage nachvollziehbarer tatsächlicher Annahmen- wie beispielsweise durch Befragungen, Auswertung vergangener Anlässe – prognostiziere, ob der besondere Anlass für sich genommen eine Besucherstrom erwarten lasse, der die Zahl der Besucher übersteige ,die allein wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen kämen[29].
Diese Prognose sei eine Normerlassvoraussetzung und nur eingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle zugänglich; das Gericht könne insbesondere nicht eine eigene Prognose anstelle des Verordnungsgebers setzen. Zu prüfen sei jedoch, ob sie bei Erlass der Rechtsverordnung über die Freigabe der Ladenöffnung schlüssig und vertretbar sei[30]).
Gemessen an diesen Maßstäben könne die angegriffene Verordnung keinen Bestand haben. Ihr fehle bereits eine verwertbare Prognose der Antragsgegnerin[31].
2.2.b) Der Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 7.3.2016 -3 EN 123/16- hält sich noch einigermaßen im Fahrwasser der bis November 2015 zu § 14 LadSchlG vertretenen Auffassungen.
Anders dagegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 22.9.2016. Das Oberverwaltungsgericht übernimmt in diesem Urteil voll die vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.11.2015 -8 CN 2/14- vertretene Auffassung zu der Erforderlichkeit einer Prognose der Besuchermengen der Veranstaltung einerseits und der Ladenöffnungen andererseits.
Ausführungen in dem Urteil sprechen dafür, dass es sich bei der erforderliche Prognose um einen Teil der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des § 10 Abs.1 ThürLadÖffG handelt[32]. Andere Ausführungen sprechen dafür, dass es sich bei der Prognose um die Voraussetzung für eine rechtmäßige Ausübung des Ermessens beim Erlass der Freigabe-Verordnung handelt[33]. Mit dem vom Oberverwaltungsgericht verwendeten Begriff “Normerlassvoraussetzung“ könnte beides gemeint sein.
Wenn die Freigabe-Verordnung zu ihrer Rechtmäßigkeit tatbestandsmäßig voraussetzen würde, dass eine prognostizierte Menge der Veranstaltungsbesucher die der Ladenbesucher voraussichtlich übersteigt, so müsste im Rechtsstreit das Gericht selbst eine solche Einschätzung vornehmen. Nach § 86 Abs.1 VwGO erforscht das Verwaltungsgericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heran zu ziehen, doch ist das Gericht an das Vorbringen der Beteiligten nicht gebunden (§ 86 Abs.1 VwGO).
Einer der Falltypen, in denen der Verwaltung bei der Anwendung eines Gesetzes ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, liegt für die Prognose der Besuchermengen nicht vor; vielmehr soll die Prognose nach objektiven Umständen und realistischen Kriterien erstellt werden. Das Ladenöffnungsgesetz gibt zur Freigabe verkaufsoffener Sonntage den Gemeinden auch keinen Planungs- oder Gestaltungsauftrag, zu deren Ausführung, etwa wie in Bauleitplänen oder Bebauungssatzungen, Prognosen als verbindlich angesehen werden könnten.
Wenn die Prognose der Besuchermengen nicht bereits Voraussetzung der gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass der Freigabe-Verordnung ist, sondern erst Voraussetzung für eine sachgerechte Ausübung das mit dem Beschluss über die Freigabe-Verordnung auszuübenden Ermessens sein soll, so stellt die Prognose selbst doch keine Ermessensausübung dar.
Die Ausführungen im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 -8 CN 2.14- BVerwGE 153,183,190 und im Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 22.9.2016 -3 N 182/16- zur Verbindlichkeit und zur Einschränkung der Nachprüfbarkeit der gemeindlichen Prognosen halte ich deshalb für verfehlt.
Im übrigen hat das Oberverwaltungsgericht ausweislich der Urteilsgründe ungeachtet des Fehlens einer verwertbaren Prognose der Gemeinde festgestellt, dass aufgrund der sich aus den Akten zu entnehmenden Umstände in keinem Fall ein die Verkaufsöffnung rechtfertigender besonderer Sachgrund feststellen lasse[34].
2.3.a) Das an die Stelle des Ladenschlussgesetzes getretene Hessische Ladenöffnungsgesetz (vom 23.11.2006, GVBl. I S.606) bestimmt in § 6 Abs.1 HLÖG, dass die Gemeinden aus Anlass von Märkten, Messen, örtlichen Festen oder ähnlichen Veranstaltungen berechtigt sind, die Öffnung von Verkaufsstellen an jährlich bis zu vier Sonn- oder Feiertagen freizugeben. Nach § 6 Abs.2 HLÖG kann die Offenhaltung auf bestimmte Bezirke und Handelszweige beschränkt werden.
Die Stadt Frankfurt am Main gestattete mit Allgemeinverfügung vom 29.1.2016 die Öffnung der Verkaufsstellen in ihrem Stadtgebiet anlässlich der Musikmesse am Sonntag, den 10.4.2016, und ordnete den Sofortvollzug der Verfügung an. Eine Gewerkschaft und ein Verein der katholischen Arbeitnehmerbewegung legten gegen die Verfügung Widerspruch ein und beantragten, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche wiederherzustellen.
Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main lehnte mit Beschluss vom 24.3.2016 -7 L 602/16.F- die Stoppanträge als unbegründet ab. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 6 HLÖG für die verfügte Freigabe seien erfüllt. Auch ohne das Offenhalten von Verkaufsstellen sei die Musikmesse interessant genug, einen beträchtlichen Besucherstrom anzuziehen[35].
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof stellte mit Beschluss vom 5.4.2016 -8 B 751/16- die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Freigabe-Verfügung vom 29.1.2016 wieder her. In den Gründen des Beschlusses heißt es, es könne dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 HLÖG für eine Öffnung von Verkaufsstellen vorlägen. Denn jedenfalls erweise sich die Gestattung der Sonntagsöffnung für den Bereich des gesamten Stadtgebietes und ohne Beschränkung auf bestimmte Handelszweige, für deren Öffnung an einem Sonntag anlässlich der Musikmesse ein sachlicher Grund bestehen könnte, bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, da diese Regelung an Ermessensfehlern leide[36]. Eine Sonntagsöffnung von Verkaufsstellen mit unbeschränktem Warenangebot aus Anlass eines Marktes oder einer Messe sei nur zulässig, wenn die den öffentlichen Charakter des Tages prägende Wirkung einer solchen Veranstaltung gegenüber dem typisch werktäglichen Charakter der Ladenöffnung überwiege. Ein solches Überwiegen der prägenden Wirkung der Musikmesse könne das Beschwerdegericht angesichts der unbeschränkten Freigabe der Sonntagsöffnung auf sämtliche Handelszweige, noch dazu im gesamten Gebiet der Antragsgegnerin, nicht feststellen[37].
In seinem Beschluss vom 21.10.2016 -8 B 2618/16- zum Stopp der Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags anlässlich der Buchmesse führte der Hessische Verwaltungsgerichtshof, ähnlich wie bereits in seinem Beschluss zur Musikmesse, zunächst aus, dass die Frankfurter Buchmesse als anlassgebende Messe im Sinne von § 6 Abs.1 HLÖG zu einer Ladenöffnung berechtigen könne. Jedoch erweise sich die erfolgte Gestattung der Sonntagsöffnung für den Bereich des gesamten Stadtgebietes, lediglich unter Ausschluss einiger weniger Handelszweige wie zum Beispiel des Baustoffhandels, als offensichtlich fehlerhaft. Gemäß § 6 Abs.2 HLÖG liege es im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung, die Freigabe der Öffnung von Verkaufsstellen auf bestimmte Bezirke und Handelszweige zu beschränken[38].
Anders als in dem Beschluss vom 5.4.2016 zur Musikmesse heißt es dann aber in dem Beschluss vom 21.10.2016 zur Buchmesse wie folgt: „Das im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsschutz maßgebliche Ziel, einen vorherrschenden Eindruck einer typisch werktäglichen Geschäftigkeit der Ladenöffnung zu vermeiden, verlangt überdies in jedem Fall zusätzlich, das nach einer von der Behörde anzustellenden Prognose der Besucherstrom, den die Veranstaltung für sich genommen auslöst, die Zahl der Besucher übersteigt, die allein wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen in den von der Öffnung erfassten räumlichen Bereich kämen“[39]. Die Ausdehnung der Ladenöffnung auf das gesamte Stadtgebiet sei nicht haltbar, denn die Antragsgegnerin habe keine Prognose über die zu erwartenden Besucherströme aufgestellt. Daher liege kein Anhaltspunkt für die Beurteilung vor, ob die Zahl der Buchmessebesucher die Zahl derjenigen Besucher übersteige, die allein wegen der Ladenöffnung im gesamten Stadtgebiet in dieses strömen würden[40].
2.3.b) Das Ausmaß zugelassener Ladenöffnungen davon abhängig zu machen, dass die Zahl der Veranstaltungsbesucher voraussichtlich die Zahl der Besucher übersteigt, die voraussichtlich ohne Interesse an der Veranstaltung wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen in den von der Öffnung erfassten räumlichen Bereich kommen, ist wohl ein geeignetes Mittel, um nach § 6 HLöG in Betracht kommende Freigaben und deren Ausmaß zu begrenzen.
Bei der Festlegung des Bereichs, für den die Freigabe der Ladenöffnungen gelten soll, hat die Gemeinde nicht nur den tatsächlichen Auswirkungsbereich der Veranstaltung zu beachten, sondern von vornherein auch zu bedenken, ob der freigegebene Bereich der erforderlichen Relation der Besuchermengen genügen würde oder aber eine übermäßige Ausnahme sein würde.
Dass die Gemeinden nach § 6 Abs.1 HLöG berechtigt sind, aus Anlass von Märkten, Messen, örtlichen Festen oder ähnlichen Veranstaltungen die Öffnung von Verkaufsstellen an Sonn-oder Feiertagen freizugeben, berechtigt sie nur zur Gewährung von Ausnahmen, die im Verhältnis zu der Anlass gebenden Veranstaltung nicht übermäßig sind. Durch eine Beschränkung der Offenhaltung auf bestimmte Bezirke und Handelszweige kann und hat die Gemeinde nach § 6 Abs.2 HLöG der geforderten Verhältnismäßigkeit zu genügen.
Dass aber die Gemeinde tatsächlich eine brauchbare Prognose zu den Besuchermengen erstellt, ist nicht Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs.1 HLöG. In Auslegung der von dem Hessischen Verwaltungsgerichthof im Beschluss vom 21.10.2016 so genannten “ermessenssteuernden“ Tatbestandsmerkmale für die Ermächtigung der Gemeinde zur Freigabe von Ladenöffnungen kann für die verfügte Freigabe zur Wahrung ihrer Verhältnismäßigkeit lediglich vorausgesetzt oder gefordert werden, dass realistisch prognostiziert werden kann, die Menge der Veranstaltungsbesucher werde voraussichtlich die Menge der Besucher übersteigen, die wegen einer Öffnung der Verkaufsstellen in den von der Öffnung erfassten Bereich kommen.
2.4.a) Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen stellte auf Antrag einer Gewerkschaft hin mit Beschluss vom 10.6.2016 -4 B 504/16- durch einstweilige Anordnung fest, dass Geschäfte in Stadtbezirken der Stadt Velbert nicht an den Sonntagen geöffnet haben dürfen, die durch Rechtsverordnung der Stadt vom 15.12.2015 freigegebenen waren[41].
Die umstrittene Rechtsverordnung sei von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs.4 i.V.m. Abs.1 LÖG NRW nicht gedeckt[42]. Nach § 6 Abs.1 LÖG NRW dürften Verkaufsstellen aus Anlass von örtlichen Festen, Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen an jährlich höchstens vier Sonn- oder Feiertagen geöffnet sein. § 6 Abs.4 LÖG NRW ermächtige die zuständige örtliche Ordnungsbehörde dazu, die Tage nach Absatz 1 durch Rechtsverordnung freizugeben. Die Freigabe könne sich auf bestimmte Bezirke, Ortsteile und Handelszweige beschränken.
Die Antragsgegnerin habe die verfassungsrechtlich gebotenen und vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.11.2015 dargelegten Maßstäbe zur Freigabe von Ladenöffnungen an Sonn- und Feiertagen nicht beachtet. Sie habe keine nachvollziehbare Prognose darüber angestellt, ob die Märkte und Veranstaltungen, anlässlich derer im Jahre 2016 eine Sonntagsöffnung vorgesehen sei, so attraktiv sein würden, dass sie und nicht die am selben Tag gestattete Ladenöffnung den hauptsächlichen Grund für den Aufenthalt von Besuchern bieten würden[43]).
Es fehle nicht lediglich an der erforderlichen Prognose der jeweils erwarteten Besucherströme im Vergleich zu der Zahl der Kaufinteressenten. Vielmehr sei bereits bei summarischer Prüfung offensichtlich, dass die Verkaufsstellenöffnung schon wegen der breiten Werbung gerade für sie, vor allem aber wegen ihrer erheblichen räumlichen Ausdehnung auf ganze Stadtbezirke sowie der Einbeziehung aller Handelssparten und Warengruppen an keinem der vorgesehenen Sonntage wie erforderlich bloßer Annex zur anlassgebenden Veranstaltung sei[44].
Das Verwaltungsgericht Münster lehnte mit Beschluss vom 27.7.2016 -9 L 1099/16- den Anordnungsantrag einer Gewerkschaft ab auf Feststellung, dass Verkaufsstellen in einem Stadtbezirk von Münster anlässlich eines Weinfestes nicht aufgrund einer Verordnung der Stadt geöffnet sein dürfen. In den Gründen des Bescheides heißt es, das Besucheraufkommen werde bezogen auf den Bereich mit Sonntagsöffnungen maßgeblich von dem Veranstaltungsangebot des Winzerfestes ausgelöst. Der Eindruck einer typisch werktäglichen Geschäftstätigkeit der Ladenöffnung mit einem bloß wirtschaftlichen Umsatzinteresse der Ladeninhaber stelle sich für die betreffende Zeit für den beschriebenen räumlichen Bereich nicht ein. Bei diesen Sachgegebenheiten habe es einer weitergehenden, möglicherweise sogar extern und vorlaufend durchzuführenden “empirischen“ Erhebung zu den jeweiligen “Besucherströmen“ als Prognosegrundlage und Hilfsmittel der Abschätzung für den Rat der Stadt nicht bedurft[45].
Das Gericht könne aus der vom OVG NRW im Beschluss vom 10.6.2016 wiedergegebenen und mitgetragenen Beurteilung des BVerwG in seinem Urteil vom 11.11.2015 -8 CN 2.14- nicht ableiten, dass einer Entscheidung des Rates nach § 6 Abs.1 und 4 LÖG NRW stets und losgelöst vom Einzelfall aus Rechtsgründen eine empirische Befragung oder andere formalisierte Erhebungen vorauszugehen hätten, um eine rechtskonforme Entscheidung zu eröffnen. Je nach Fallsituation und den Erkenntnissen des Rates aus anderem Zusammenhang könne die Sachkunde des Rates für eine sachgerechte Abschätzung allein hinreichend sein[46] (Rdn.27).
Das Oberverwaltungsgericht änderte mit Beschluss vom 15.8.2016 -4 B 887/16- auf Beschwerde hin den Beschluss des VG Münster vom 27.7.2016 und stellte durch einstweilige Anordnung fest, dass die Verkaufsstellen nicht geöffnet sein dürfen.
In den Gründen des Beschlusses des OVG NRW heißt es, der Senat lasse offen, ob allein schon das vollständige Fehlen einer eigenen prognostischen Abschätzung der Stadt dazu, ob das Weinfest für den öffentlichen Charakter des betroffenen Sonntags prägend sein werde, weil es selbst und nicht erst die Ladenöffnung einen beträchtlichen Besucherstrom auslöse, der die Zahl der Besucher bei alleiniger Öffnung übersteige, die Rechtswidrigkeit und Ungültigkeit der umstrittenen Verordnungsbestimmung zur Folge habe. Davon wäre auszugehen, wenn es sich bei der zu treffenden gemeindlichen Prognose um eine zwingende Anforderung an den Normsetzungsvorgang handelte, die ungeachtet einer etwaigen Ergebnisrichtigkeit der jeweiligen Rechtsverordnung stets gewahrt sein müsste[47].
Hier habe auf eine solche Prognose jedenfalls deshalb nicht verzichtet werden können, weil nicht offenkundig sei, dass die gesetzlichen Anforderungen des § 6 Abs.1 LÖG NRW an eine anlassgebende Veranstaltung zumindest im Ergebnis eingehalten seien[48].
2.4.b) Die Freigabe verkaufsoffener Sonntage nach dem LÖG NRW erfolgt nicht wie in Hessen durch Allgemeinverfügungen, sondern durch ordnungsbehördliche Verordnungen. Es ist Sache der Verwaltungsgerichte zu ermitteln und darüber zu befinden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 6 LÖG NRW für die erlassene Freigabe-Verordnung erfüllt sind, und das Gericht hat in diesem Zusammenhang auch den Inhalt von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen zu bestimmen und auszufüllen. Auch ist es Sache des Gerichts, darüber zu befinden, ob die Verordnung wirksam erlassen wurde und ob sie inhaltlich mit höherrangigen Rechtsnormen in Widerspruch steht. Dagegen ist es nicht Sache des Gerichts, die Ausübung des Ermessens des Verordnungsgebers zu regeln und ohne besondere gesetzliche Ermächtigung den Verordnungsgeber zu bestimmten Ermittlungen und Prognosen zu verpflichten. Damit stimmt überein, dass es in § 9 Abs.5 des Ordnungsbehördengesetzes NRW heißt, dass sich das Weisungsrecht der Aufsichtsbehörden nicht auf den Erlass ordnungsbehördlicher Verordnungen erstreckt, und dass die Regelung des § 16 des Ordnungsbehördengesetzes NRW, dass die Ordnungsbehörden ihre Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen treffen, in dem Abschnitt zu Ordnungsverfügungen, nicht aber in dem Abschnitt zu ordnungsbehördlichen Verordnungen steht.
2.5.a) Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg lehnte mit Beschluss vom 26.10.2016 -6 S 2041/16- den Antrag einer Gewerkschaft auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Satzungen der Stadt Sindelfingen ab, mit denen die Stadt anlässlich eines Kinderfestes einen verkaufsoffenen Sonntag bestimmte. Auch wenn sich die Satzungen nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.11.2015 -8 CN 2/14- BVerwGE 153,183 wegen des Fehlens der erforderliche Prognose zu Besucherströmen voraussichtlich als rechtswidrig erweisen dürften, so lasse der Vollzug der Freigabesatzungen doch keine Nachteile befürchten, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig seien, dass eine vorläufige Regelung unaufschiebbar sei[49].
Der Senat gehe dabei im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht weiter der Frage nach, ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2009 (1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07, BVerfGE 125, 39) die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommeine „weitergehende“ verfassungskonforme Einschränkung des Anwendungsbereichs der Ladenöffnungsregelungen an Sonntagen erfordere. Es bestünden nach derzeitigem Erkenntnisstand gewisse Zweifel, ob diese vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene enge „verfassungskonforme“ Auslegung den Vorgaben im Urteil des Bundesverfassungsgerichts entspreche. Jenes fordere allein ein Schutzkonzept mit einem Mindestschutzniveau und die Einhaltung eines Regel-/Ausnahmeverhältnisses, während das Bundesverwaltungsgericht eine Verknüpfung einer anderen Veranstaltung mit der Ladenöffnung in Gestalt einer (überwiegenden) Gleichwertigkeitsprognose verlange[50].
2.5.b) Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hält die vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.11.2015 vertreten Auffassung zur Prognose von Besuchermengen für maßgebend, obwohl er Zweifel hat, ob die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemachten Vorgaben entspricht. Das erstaunt; denn bei dem Gesetz über die Ladenöffnung in Baden-Württemberg handelt es sich um ein Landesgesetz. Über Fragen des Landesrechts hat das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich nicht zu entscheiden, sondern da ist der Verwaltungsgerichtshof letzte Instanz.
Die von dem Bundesverwaltungsgericht geforderte Relation zwischen der Menge von Veranstaltungsbesuchern einerseits und der Menge von Kaufinteressierten andererseits mag einer verfassungskonformen Auslegung des § 14 LadSchlG entsprechen, wird aber von dem verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsschutz nicht geboten.
In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.2009 -1 BvR 2857,2858/07- BVerfGE 125,39 werden Veranstaltungen, die einen für die Ausnahme erforderlichen Sachgrund bieten, nicht der Handlungsfreiheit von Ladenbesitzern und potentiellen Kunden entgegen gestellt. Dass Ausnahmen – wie es in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt – als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben müssen und nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinauslaufen dürfen, führt nicht, jedenfalls nicht zwingend, zu der vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Auffassung. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts selbst sagt nichts zu irgendwelchen Besuchermengen und deren Prognose.
Über die Auslegung des in Bayern als Bundesrecht fortgeltenden Ladenschlussgesetzes hat das Bundesverwaltungsgericht maßgebend zu befinden. Das Gericht überschreitet aber seine Kompetenz und trifft dem Gesetzgeber vorbehaltene Regelungen, wenn es für die Zulässigkeit der Sonntagsöffnung das Vorliegen einer von der Gemeinde konkret erstellten Prognose voraussetzt oder fordert.
[1] BayVGH Urt.v.6.12.2013 -22 N 13.788- BayVBl.2014,364; juris
[2] BayVBl.2014,369; juris Rn. 69
[3] BayVBl. 2014,369; juris Rn. 71
[4] vgl.: Theiß Ladenschlussgesetz 1991, § 14 LadSchlG Rn.2,3; Schunder, in Stober Ladenschlussgesetz 4.Aufl. 2000, § 14 Rn.4
[5] BVerwG Beschl. v. 6.3.2003 -6 BN 9.02- GewArch 2003,262,263
[6] AllMBl. 2004 S.621
[7] OVG Lüneburg Urt.v.21.4.2005 -7 KN 273/04- juris Rn.27
[8] vgl.: Eyermann/Schmidt VwGO, 14.Aufl. 2014, § 47 VwGO Rn. 31,92; Redeker-von Oertzen VwGO, 16.Aufl. 2014, § 47 VwGO Rn. 21; Schenke VwGO, 22.Aufl. 2016, § 47 VwGO Rn. 112,117,120; Ziekow in Sodan/Ziekow VwGO, 4.Aufl. 2014, § 47 VwGO Rn. 353
[9] AllMBl.2004 S.621 Nr.1
[10] BayVGH Urt.v.31.3.2011 -22 BV 10.2367- juris Rn.15
[11] vgl.: § 6 Abs.1 der bayerischen Verordnung vom 2.12.1998 über Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes, GVBl. 1998 S.956,958; § 11 der bayerischen Delegationsverordnung vom 28.1.2014, GVBl. 2014,22
[12] BVerwG Urt.v.11.11.2015 – 8 CN 2.14- BVerwGE 153,183; GewArch 2016,154
[13] BVerwGE 153,187 Rn. 20
[14] BVerwGE 153,187 Rn. 22
[15] BVerwGE 153,188 Rn.23
[16] BVerwGE 153,189 Rn. 24
[17] BVerwGE 153,189 Rn. 25
[18] BVerwGE 153,190 Rn. 36
[19] BVerwGE 153,191 Rn. 37
[20] BVerwGE 153,188,189 Rn. 23,24
[21] vgl. BayVGH Urt.v. 18.5.2016 -22 N 15.1526 juris Rn. 38
[22] BVerwGE 153,189 Rn. 24,25
[23] vgl. BVerwG Beschl. v. 6.3.2003 -6 BN 9.02- GewArch 2003,262,263
[24] vgl. BVerfGE 125,87, juris Rn. 157
[25] BayVGH Urt.v.18.5.2016 -22 N 15.1526- juris Rn.38
[26] ThürOVG Beschl.v.7.3.2016 S. 7; juris Rn. 20,26
[27] ThürOVG Beschl. v. 7.3.2016 S.8,9; juris Rn.25
[28] ThürOVG Urt.v. 22.9.2016 S.9; juris Rn. 41
[29] ThürOVG Urt.v.22.9.2016 S.13; juris Rn. 53
[30] ThürOVG Urt.v.22.9.2016 S.13; juris Rn. 54
[31] ThürOVG Urt.v.22.9.2016 S.13 juris Rn. 55,56
[32] ThürOVG Urt.v. 22.9.2016 S.9; juris Rn. 41
[33] ThürOVG Urt.v.22.9.2016 S.13,14; juris Rn. 53,58
[34] ThürOVG Urt.v.22.9.2016 S.14/15; juris Rn.56,61
[35] VG Frankfurt a.M. Beschl. v.24.3.2016 Seite 3; www.lareda.hessenrecht.hessen.de
[36] VGH Hessen Beschl.v.5.4.2016 Rn. 25
[37] VGH Hessen Beschl.v.5.4.2016 Rn.33
[38] VGH Hessen Beschl. v. 21.10.2016 Seite 2 www.lareda.hessenrecht.hessen.de
[39] VGH Hessen Beschl. v.21.10.2016 Seite 2 www.lareda.hessenrecht.hessen.de
[40] VGH Hessen Beschl. v. 21.10.2016 Seiten 2/3 www.lareda.hessenrecht.hessen.de
[41] OVG NW Beschl.v.10.6.2016 NWVBl. 2016,513; Justiz-online NRWE
[42] OVG NW Beschl.v.10.6.2016 NWVBl. 2016,515; Justiz-online NRWE Rn. 35
[43] OVG NW Beschl.v.10.6.2016 NWVBl. 2016,515/516 ; Justiz-online NRWE Rn. 39-43
[44] OVG NW Beschl.v. 10.6.2016 NWVBl. 2016,516; Justiz-online NRWE Rn. 49
[45] VG Münster Beschl.v.27.7.2016 juris Rn.25
[46] VG Münster Beschl.v.27.7.2016 juris Rn.27
[47] OVG NW Beschl. v. 15.8.2016 juris Rn. 41
[48] OVG NW Beschl. V.15.8.2016 juris Rn. 43
[49] VGH BW Beschl.v.26.10.2016 juris Leitsatz und Rn. 13
[50] VGH BW Beschl.v.26.10.2016 juris Rn. 9