Befreiungen von der Schulpflicht in der Corona-Krise

I. Gesetzeslage

Die Bundesländer schreiben in ihren Schulgesetzen eine allgemeine Schulpflicht vor, die durch den regelmäßigen Besuch einer Schule und Teilnahme am Schulunterricht zu erfüllen sei. Fast alle Schulgesetze sehen vor, dass von dieser Pflicht aus wichtigem Grund in besonderen Fällen  Ausnahmen, Befreiungen oder Beurlaubungen zugelassen werden können.

In Artikel 6 Abs.2 des Grundgesetzes heißt es, dass Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht ist; über ihre Betätigung wache die staatliche Gemeinschaft. In Art.7 GG heißt es, das gesamte Schulwesen stehe unter der Aufsicht des Staates.

Nach allgemeiner Auffassung, insbesondere auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, verstößt die allgemeine Schulpflicht grundsätzlich nicht gegen das elterliche Erziehungsrecht, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder gegen andere Grundrechte.

II. Corona-Krise

 Zur Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus wurden im März 2020 fast alle Schulen, deren Unterrichtsbetrieb die Anwesenheit der Schüler voraussetzte, geschlossen. Findet kein vorgeschriebener Unterrichtsbetrieb statt, so kommen Befreiungen von der Schulpflicht nicht in Betracht.

Die Corona-Pandemie mit ihren hohen Infektionsgefahren und ihren in die Tausende gehenden tödlichen Erkrankungen wird voraussichtlich auch in den nächsten Monaten fortdauern. Dennoch sind die Schulen seit Mitte April 2020 wieder für den Unterricht geöffnet worden, schrittweise und zunächst nur für bestimmte Jahrgänge. Die Infektionsgefahr soll dadurch gemindert werden, dass die Schulklassen verkleinert und die Wahrung von Abständen zwischen den einzelnen Schülern ermöglicht und vorgeschrieben wird.

III. Verhältnismäßigkeit und praktische Konkordanz

Die Corona-Krise schafft Ausnahmesituationen, die – um das rechtsstaatliche Gebot der Verhältnismäßigkeit zu wahren – auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelungen  Befreiungen von der Schulpflicht zulassen oder gebieten. Befreiungen sind  begünstigende Verwaltungsakte, die für die Dauer und den Umfang der Befreiung zwingende gesetzliche Verbote oder Gebote außer Kraft setzen. Sie können für individuelle Einzelfälle erteilt werden, dies dann meist auf entsprechende Anträge hin, oder aber auch als Allgemeinverfügungen.

 Bei der Abwägung, ob eine Befreiung möglich oder gar geboten ist, fällt hauptsächlich ins Gewicht, dass die erzwungenen Zusammenkünfte der Schüler in der Schule trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hohe Infektions- und Gesundheitsgefahren für die Schüler und ihre Angehörigen mit sich bringen. Im Hinblick auf diese erheblichen Gesundheitsgefahren befand der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Eilbeschluss vom 24.4.2020 (8 B 1097/20 N), es verstoße gegen das Grundrecht des Artikel 3 Abs.1 GG auf Gleichbehandlung, wenn nach der hessischen Zweiten Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 16. April 2020 die Schüler der vierten Jahrgangsstufe bereits am 27. April 2020 wieder zur Schule gehen müssten, während die Schüler der anderen Jahrgangsstufen dem Unterricht bis zum 3. Mai 2020 fernbleiben müssten.  Die Erfüllung des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags wird voraussichtlich darunter leiden, dass für einen Unterricht in den Schulen wegen der Abstandsregeln, die zu kleineren Klassen führen, Räume und Lehrer fehlen werden. Mit weit gefassten Befreiungen von der Präsenzschulpflicht könnten in praktischer Konkordanz des staatlichen Unterrichts- und Erziehungsauftrags mit den grundrechtlichen Positionen der Schüler und ihrer Eltern die krisenbedingten Mängel und Lücken des staatlichen Schulunterrichts gemindert werden.

RA Dr. B. Preusche ,Verwaltungsrichter a.D.                        Frankfurt a.M. , den 26.4.2020